1. Der schwere Koffer ...


    Datum: 03.10.2024, Kategorien: Reif

    Vielleicht war es Absicht oder Vorahnung. Eigentlich wollte ich nur höflich sein, betont höflich sogar, als ich gesehen hatte, dass die Frau leicht zu hinken schien.
    
    Sie war wohl an die fünfzig, vielleicht auch drüber, gut gekleidet und gut geschminkt und doch schien mehr als ein Hauch von Trauer in ihr zu sein. Oder war es ein versteckter Schmerz, vielleicht auch von ihrem Fuß her rührend, den sie verstaucht hatte oder aber gezerrt.
    
    Ich hatte den gleichen Zug wie sie genommen. Dienstreise in einen Ort, den ich zuvor mein Leben lang noch nicht gehört, geschweige denn gekannt hatte. Schon klar, informiert auf google und Maps und Co - und dennoch:
    
    Aha - dort!? Quasi zwischen Hamburg und Berlin gelegen und wegen des einen oder anderen Schlosses dann doch berühmt. Nicht aber des Königs wegen - Bayern war weit weg, hier ging es wahr­lich um die Preußen ...
    
    Ludwigslust. Das Wörtchen Lust hatte sich mit Lächeln auf meine Wangen gedrückt.
    
    Ihr Koffer war viel zu schwer, zumindest für sie. Das sah ich sofort, wartete aber noch kurz zu, ehe ich darauf reagieren würde.
    
    Als der Zug sich dem Bahnhof näherte und zu bremsen begann, drehte ich mich zu ihr hin.
    
    »Darf ich Ihnen beim Koffer heraus heben helfen?« - ich hatte das wohl von meiner Mutter gelernt, höflich zu sein. Und bislang war ich auch nicht falsch gefahren deswegen. Es war doch nichts dabei - die eine oder andere Sekunde mehr und, das war es dann. Pfadfinder und die gute tägliche Tat oder so.
    
    »Er ist ...
    ... aber ... schon recht schwer!«, schien sie zu warnen, aber sie lächelte. Und das zauberte ein Strahlen und eine Schönheit auf ihre Wangen, dass es wie ansteckend wirkte. Vielleicht das erste nette Wort des Tages, das sie hörte, kam mir vor.
    
    »Mag sein - aber dann ... erst recht! Dann muss ich ja einfach darauf bestehen, Ihnen zu helfen!«
    
    Und mit einem leichten Nachdruck rückte ich den Koffergriff an mich heran. Ja natürlich hatte auch ich ein Gepäckstück für eine Woche gepackt und ein Zimmer irgendwo gebucht, wo ich eine grobe Ahnung hatte, wo das wohl lag. Maps hin und her, irgend­wie fand ich es beim Ausstieg bereits düsterer als ich für die Uhrzeit gedacht hatte. Mein Sehproblem eben in der Nacht, aber dank GPS und Co würde ich meine Absteige schon finden.
    
    Ich hatte erwartet, dass sie von ihrem Mann am Bahnsteig ab­geholt wird. Zumindest hätte ich mir ähnliches erwartet - auch wenn ich nicht verheiratet war und wohl an Jahren um vieles jünger als sie mit ihrem Mann zusammen sein musste.
    
    Das war, wie gesagt, meine prinzipielle Erwartung gewesen, nicht so sehr die konkrete und tatsächliche. Denn schon beim Aus­steigen war ich mir sicher, dass niemand hier wartete, um sie auf­zu­lesen. Denn ihr Blick war nicht suchend auf den Bahnsteig ge­richtet, eher ins Leere und Blaue hin oder teils auf mich.
    
    Keine Ahnung ob Kinder nicht wohl auch ihre Mutter holten, das wäre wohl üblich gewesen. Ich hätte meine sicher geholt, wenn ich nicht im Ausland gewesen wäre. Ihre Kinder ...
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