Das Oktaeder des Grauens
Datum: 24.04.2020,
Kategorien:
Schamsituation
Lehrer sind mitunter seltsame Mitmenschen. Lehrer haben so ihre Macken. Nach nun fast 11 Jahren praktischen Erlebens des Bildungswesens hatten die Schülerinnen und Schüler dieser Klasse, die bald durch einen ganz besonders ausgefallenen Schülerstreich zu zweifelhaften Ruhm kommen würde, gelernt, die Macken im Lehrkörper zu nehmen wie sie sind, und für sich nutzbar zu machen.
Nehmen wir zum Beispiel den Herrn Direktor Huber. Der sammelt mit großer Leidenschaft historische Münzen. So konnte es sich der Axel nicht nehmen lassen, seinen Direktor während des Deutschunterrichts auf die neue Theorie anzusprechen, nach der der Klein-Keckhofer-Taler im Heimatmuseum aus der Zeit Karl des Kahlen stammen müsste. Selbstredend entsprang diese Theorie der reinen Fantasie Axels. Aber es erfüllte seinen Zweck.
Der Rest der Unterreichsstunde war gerettet, seinen Klassenkameraden blieben öde Interpretationsversuche über Bertholt Brecht erspart. Bis zum Ertönen des Gongs hielt Direktor Huber nun einen hingebungsvollen Monolog über die Geschichte des Klein-Keckhofer-Talers und der Unmöglichkeit einer solchen Theorie.
Cäcilia Weitersbruch, die neue Mathematiklehrerin, zeigte sich hierbei jedoch als besonders harte Nuss. Gegen ihre langatmigen mathematischen Herleitungen, die sich oft über eine ganze Schulstunde zogen, hatten die Pennäler noch kein Heilmittel gefunden.
Eigentlich war die 27-jährige Lehrerin eine sehr attraktive Frau, aber sie war auch eine dieser Personen, die ...
... zum Lachen in den Keller gehen. Ihren Schülern gegenüber gab sie sich streng und distanziert. In ihrem dezent geschminkten markanten Gesicht unter den geometrisch genau hochgesteckten vollen schwarzen Haaren zeigte sie nie eine Regung.
Ihr Unterricht verlief streng nach den Vorgaben des Lehrplans. Zum Beginn ihrer Schulstunde kam sie wortlos herein, wartete bis ihre Schüler aufgestanden waren, auf diese Respektbezeugung gegenüber ihr als Lehrerin legte sie großen Wert, dann grüßte sie kurz, drehte sich zur Tafel und wendete sich der heutigen mathematischen Aufgabenstellung zu. Die war immer sehr kompliziert und der Weg zur Lösung steinig. Nicht selten kam es vor, dass sie sich erst zum Schlussgong wieder zur Klasse umdrehte.
Von ihren Schülerinnen und Schülern erwartete sie, zuzuhören und mitzuschreiben. Jegliche Versuche, vom Lehrstoff abzulenken erwiesen sich als zwecklos. In Frau Weitersbruchs Unterricht wurde nicht gequatscht. Jedoch gab es einen unterschwelligen Geräuschpegel, der den Pennälern einigen Handlungsspielraum gab, solange sie Frau Weitersbruch nicht sehen konnte. Wenn sich die Lehrerin der Tafel zugewandt in ihre mathematischen Aufgaben vertiefte, vergaß sie ihre Umwelt.
Mit der Zeit hatten die Schülerinnen und Schüler gelernt, ihre außerunterrichtlichen Aktivitäten genau an die Grenze dieses Geräuschpegels anzupassen. Überschritten werden durfte er nicht, mit Frau Weitersbruch war nicht gut Kirschen essen.
Dann kam das Ende der vorletzten ...