1. RPE (3) CoronaDate


    Datum: 09.06.2021, Kategorien: Reif

    ... zu einem richtigen Landregen ausgeweitet, es ist auch in der Wohnung etwas kühl geworden und meine Gastgeberin wirft die Heizung an, damit es "gemütlich" wird. Schnell führt sie mich durch die Wohnung. An einem Tisch entdecke ich eine Gedenkfotografie mit schwarzer Schleife und einer Kerze davor. "Das war mein Mann, er ist leider vor zwei Jahren an einem Kunstfehler verstorben."
    
    "Oh, tut mir leid!" sage ich, was soll man in so einer Situation auch sonst sagen. Insgeheim hoffe ich, drehen sich unsere Gespräche nun nicht nur um den Verblichenen, womöglich steht der Becher mit seiner Asche auch noch irgendwo herum.
    
    Auch ich entkomme nicht, meine Vita zumindest teilweise zu erzählen. Ganz ausweichen kann ich ihrem Thema ärztlicher Kunstfehler aber nicht. Soweit sie erzählt, verstarb er an einem Herzfehler, nachdem er jahrelang vorher einen insulinpflichtigen Diabetes und Kettenraucher war. Beschwichtigend erzähle ich, dass es auch schicksalhafte Leiden gibt, gegen die selbst hervorragende medizinische Leistungen hilflos sind. Um ein positives Beispiel zu nennen, erzähle ich gesprächsweise von meiner erfolgreichen RPE (radikale Prostataektonomie).
    
    Damit das Gespräch auf andere Gleise abzweigt, erwähne ich natürlich die Zeit unserer Jugend, die voll in die 68er fällt. Ich sinniere über Woodstock, Joan Baez, die Beatles, Rolling Stones, THEM und alle die anderen, die damals für uns volle Freiheit verkörpert haben. Eine Freiheit, die es schon lange nicht mehr gibt, weil ...
    ... empfundener maßen heute alles verboten wurde.
    
    Obwohl ich die "Sache" mit der Prostata vorher nur sehr theoretisch erzählt habe schon um einen Gegenpol zu medizinischen Kunstfehlern aufzubauen, interessiert sie offenbar dieses Thema mehr als die 68er und alles andere.
    
    Längst schon wurde der längst kalte Kaffee durch Wein ersetzt. Wein, von dem sie kaum etwas trinkt, wie sie sagt, da sie alleine kein Bedürfnis hat diesen zu genießen. Aber kaum miteinander angestoßen, sind wir schon beim Du ankommen.
    
    Sie stellt sich mit Christine, ich mit Ferdinand vor. "Christine, aber bitte nenn" mich Ferdi, so nennen mich alle!" ergänze ich.
    
    Mittlerweile hat Christine den Schwedenofen angezündet, und fasziniert vom Feuer blicken wir beide mit unserem Getränk in die Flammen und die Glut hinter der gläsernen Kamintüre.
    
    Im Laufe des Nachmittags vermeine ich mein Gegenüber Christine doch etwas näher kennengelernt zu haben. Eine etwas verbitterte Frau die gut situiert, aber alleine ohne Freude und Gesellschaft dahinlebt. Offenbar leidet sie am Verlust ihres Mannes und gibt sich und der Welt daran Schuld - Schuld, die sie vermeint auf sich geladen zu haben, und die nun nur durch möglichst freudlose Verbitterung abtragen werden kann.
    
    Ich beobachte, wie Christine unbewusst immer wieder die Schultern hochzieht, den Hals dreht, offenbar ist sie trotz der angenehmen Wärme und legeren Haltung in dem wuchtigen Fauteuil verspannt. "Könnte es sein, dass du etwas verspannt bist? Soll ich dir ...
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