1. Lauschen, Kap. A bis C


    Datum: 07.05.2022, Kategorien: Voyeurismus / Exhibitionismus

    A. Abteil
    
    In Fahrtrichtung nach hinten befindet sich direkt neben dem Einstieg in den Waggon oder Wagen Zweiter Klasse, Nichtraucher, mit der Wagen-Nummer 21 und hinter dem Toilettenraum das Abteil Nummer 2. Es ist mit sechs Reisenden gut voll besetzt. Offenbar reist jede beziehungsweise jeder einzeln für sich und die sechs Personen sitzen nur zufälligerweise in diesem Abteil zusammen, denn sie unterhalten sich nicht miteinander. Die eine und der andere döst vor sich hin, einer liest in einem Buch und eine liest in einer Zeitung.
    
    B. Bahnverkehr
    
    Der Zug ist sehr gut ausgebucht, es muss niemand stehen, aber es gibt nur sehr wenig freie Sitzplätze, die dann aber an den weniger beliebten Stellen sind.
    
    Auf mindestens fünfundvierzig Minuten hat sich die Verspätung aufsummiert, obwohl es der Intercity-Schnellzug von München über Mainz nach Hamburg ist. Es gab bisher immer wieder kleine Verzögerungen, die dazu geführt haben, dass der IC "Martin Behaim" seinen Fahrplan nicht einhalten kann. Eigentlich nicht ungewöhnlich im Verkehrsbetrieb dieses Eisenbahnunternehmens. Auch die meisten Passagiere haben sich an Verspätungen gewöhnt. Ein Fahrplan, der eingehalten wird, ist geradezu etwas Ungewöhnliches. Wenn der Gong für eine neue Durchsage ertönt, wartet man gespannt auf die neue, noch aktuellere Zahl und im Stillen schließen viele Wetten mit sich ab, welcher Wert nun genannt werden würde.
    
    Der Zug hat gerade Frankfurt am Main verlassen und befindet sich auf freier ...
    ... Strecke, da ertönt der Gong für eine Durchsage.
    
    "Verehrte Fahrgäste! Wir bedauern die bisherige Verzögerung. Leider können wir aus technischen Gründen den Streckenabschnitt vor und bei Kassel nicht mit unserer gewohnten Reisegeschwindigkeit zurücklegen. Bis zum nächsten Halt in Kassel werden wir daher voraussichtlich um etwa siebenundfünfzig Minuten hinter unserem Fahrplan zurückliegen. Vielen Dank für Ihr Verständnis."
    
    C. Chris Berger, 25
    
    Am Fenster in Fahrtrichtung sitzt Chris Berger auf Sitzplatz Nummer 25.
    
    Er hat sich in einen Roman vertieft.
    
    Catull nippte am Wein, dann sprach er recht freimütig, aber er wusste auch, seine Zunge (beim Reden) zu zügeln und darauf zu achten, was wer über ihn sprach. Nebenbei pflegte er in einer schon gefährlichen Art und Weise seine aristokratischen Offenheit zu kultivieren, indem er seinen Kritikern genau sagte, wie und wann sie gefickt werden sollten -- natürlich in wohlgesetzten Worten.
    
    Sein Zweizeiler an Julius Caesar, zugleich eine obszöne Zweifinger-Geste, macht klar, dass Caesar als weißer römischer Aristokrat für Catull so wenig wert ist wie ein schwarzer Negersklave für andere, nämlich nichts, rein gar nichts. Aber das muss man erstmal zwischen den zwei Zeilen des Zweizeilers lesen können.
    
    Die Tür knarrte, wie ein sanfter Wüstenwind huschte Clodia in sein Arbeitszimmer, in einen durchsichtigen Chiffon verhüllt, der mehr zeigte als versteckte.
    
    Ach, Chris hätte nie gedacht, dass dieser Text ihn so fesseln würde. In ...
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