1. Abstand vomAlltag


    Datum: 06.06.2024, Kategorien: Reif

    ... Fassungslosigkeit stand in ihrem Gesicht geschrieben. "Ich habe auch Kinder," erklärte ich ruhig, "und Väter sind schließlich dazu da, ihre Töchter auch mal raus zu hauen. Auch wenn's eigentlich nicht Rechtens ist." Wie angewurzelt blieb sie stehen. Sie wollte irgend etwas sagen, den Mund geöffnet, aber kein Ton verließ ihre zauberhaften, dezent geschminkten Lippen. Ihre Hand an meinem Arm ließ nicht locker. Ich genoss ihren fast schmerzhaften Griff auf meiner Haut. Wie ein Jungbrunnen floß ihre jugendliche Energie in meinen Körper. Ich zog sie mit mir zu den Rolltreppen. "Verschlafen und in der Hektik die Monatskarte vergessen?", bot ich ihr eine Entschuldigung an, während der kalte Stahl uns knarrend nach oben schaffte. "Mathe," kam zur Antwort, "wir schreiben heute Mathe und ich habe keinen Plan." Ehrlich. Keine Ausrede. "Zählt's schon zum Abi?" hakte ich neugierig nach. "Nein", sie schüttelte langsam den Kopf, "erst die Elfte, aber die schon in der zweiten Runde." "Heute Abend wieder alles klar?" wollte ich wissen. Stummes Nicken, den Blick auf den Boden gerichtet. Sie erwartete einen Anschiss, den es bei ihr zu Hause sicherlich gegeben hätte. Ich schleppte sie kurzerhand zum nächsten Stehcafe in der Bahnhofshalle. "Kaffee oder lieber noch Schokolade?" neckte ich sie. "Kaffee natürlich," kam prompt und ein wenig entrüstet die Antwort. "Ich bin übrigens Joe" stellte ich mich freundlich vor. "Ich schwänze heut' das Büro, lass meine Seele baumeln. Die Welt kann mich ...
    ... mal", schlürfend sog ich den Kaffee aus der Tasse. Sie brauchte eine Weile. Konnte meine Ehrlichkeit wohl genauso wenig fassen wie ich vorhin ihre. Zwei Seelenverwandte standen wortlos, zeitlos, von Hektik umgeben in der lauten Bahnhofshalle. Wußten so viel und doch nichts voneinander. "Ich bin die Lilli" antwortete sie mit ihrer elfenhaften Stimme. Süßer Name dachte ich mir, und so passend zu ihrer Erscheinung. "Heidelberg, Freiburg oder Blaue Adria?" fragte ich lächelnd und schob ihr mein Ticket zu. "Blaue Adria ist cool, ich habe schon viel davon gehört war aber noch nie da" kam ohne zu Zögern die Antwort. "Ja ist ne riesige Badesselandschaft, herrlich gelegen im Grünen, kenne sie ganz gut...bin öfters mit der Familie dort..." erklärte ich. Ich hatte kaum ausgesprochen da dröhnte aus dem Lautsprecher :"... abfahrbereit Zug nach Ludwigshafen auf Gleis 7!" Den mussten wir nehmen wenn wir dorthin wollten. Also schnappte ich Lilli am Handgelenk. Wir ließen die Kaffeetassen halbvoll stehen und rannten quer durch die Halle. Der Zugchef war freundlich, ließ uns noch in die letzte Tür hechten. Schnaufend und lachend ließen wir uns nebeneinander auf die Sitzbank fallen. Quietschend setzte sich der Zug in Bewegung. Nur wir im Wagen, das ist der Vorteil des letzen Wagens. Stille. Ich hielt immer noch ihre Hand. Schweigend, mit neugierigem Blick suchte ich ihre Augen. Die Finger ihrer anderen Hand berührten meinen Unterarm, kraulten dort meine Haare. Der Schaffner führte uns in die ...
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