Er
Datum: 14.07.2020,
Kategorien:
Medien,
Die Kerzen waren verteilt. Sie durfte nicht vergessen, neue Teelichter zu kaufen, die Packung war fast leer. Hier am Fenster auf dem kleinen Tisch, da müssen drei stehen, sonst kommt zu wenig Licht von vorn. Ob er heute wieder kommt? Warum sitzt er fast jeden Abend da drüben auf dem Baum? Er denkt noch immer, sie kann ihn nicht sehen. Doch die alte Weide ist weg, hinten im Garten, der Sturm im Winter hatte sie gefällt. Sie war alt und knorrig und morsch. Seitdem sieht sie die Lichter vom Tennisplatz der Nachbarn durch die nachts schwarzen Blätter der Buche glitzern. Und sie spielen oft, die Nachbarn, beinahe jeden Abend.
Es ist fast dunkel, gleich wird er kommen! Wenn er kommt. Da! Er scheint über die Wiese zu fliegen wie ein Schatten. Wie kann das sein? So schnell? Wer kann so schnell laufen? Und wie er am Stamm hoch geht. Wie eine Katze. Nein, er ist viel schneller! Wie kommt er über die Mauer? Die ist doch so hoch! Egal.
Er denkt, sie kann ihn nicht sehen. Doch die Nachbarn spielen wieder Tennis heute Abend. Plopp plopp plopp … plopp ... Man kann sie sogar hören. Ihr Badfenster steht offen, es war ein warmer Tag. Da sitzt er, auf seinem Ast mit seinem Umhang. Ist ihm nicht zu heiß? Er ist nur ein Schatten. Die Kerzen brennen schon, er kann sie sicher gut sehen, wie jeden Abend. Jeden Tag eine Wanne voll Wasser. Der Mann macht sie arm, als Studentin hat sie nicht viel Geld. Doch wenn sie nur duscht, kommt er vielleicht nicht mehr. Der Schatten im Baum, er bewegt ...
... sich. Er muss schon sehr oft da gesessen haben, die Rinde auf dem Ast ist schmutzig und abgewetzt. Sie hatte gestern Mittag eine Leiter an den Ast gelehnt und nachgesehen. Wie lange beobachtet er sie schon? Seit der grüne Van mit den schwarzen Scheiben hier in der Straße parkt? Immer vor einem anderen Haus. Sie fühlte sich erst beobachtet, dann verfolgt. Hier ein Schatten, da das Gefühl eines Blickes im Nacken. Drehte sie sich um - nichts, niemals. Manchmal ein Windzug. Sein Atem? War er das immer? Dann, später, der Schatten im Baum. Schrecken! Angst! Ein Spanner? Er saß immer nur da, jeden Abend, wenn es dunkel wurde.
Gewöhnung. Er fehlte ihr auf einmal, der Schatten, wenn er mal nicht im Baum war. Die Nachbarn spielten auch nicht immer Tennis. Sitzt er im Baum? Sie zog die Zeit im Bad in die Länge. Ging näher ans Fenster. Blieb immer länger ohne Sachen, nackt! Für ihn, nur für ihn. Mehr Kerzen, mehr Licht. Kann er sie jetzt besser sehen? Was will er von ihr? Komm, sprich mit ihr. Sie spürte seine Augen auf der Haut. Es kribbelte im Bauch. Jeden Tag ein bisschen mehr. Es tut gut, er schaut nur auf sie, auf keine andere. Er kommt oft, nur wegen ihr. Warum? Er spricht sie nie an.
War er das heute in der Bibliothek? Der blasse Mann, groß, die Haut wie Pergament? Er saß neben ihr, die Haare schwarz und lang, er schaute sie die ganze Zeit an, sah gut aus. Das Buch vor ihm lag auf dem Kopf, er hat es nicht einmal bemerkt, aber sie, hi hi.
Warum war er dann dort, neben ihr? ...