1. Lisa, Fluch oder Segen


    Datum: 28.05.2019, Kategorien: 1 auf 1,

    ... bekam sie zurück, wie ich sie herausgegeben hatte.
    
    Als Lisa älter wurde, kam sie öfters zu mir und suchte sich selber etwas aus meiner Buchsammlung aus. Sie stand dann vor den Regalen und las mit seitlich weggeknicktem Kopf, die Titel auf den Buchrücken. Ich musste immer grinsen, denn wenn man sie von der Seite aus betrachtete, fiel einem erst richtig auf, wie dürr sie war. Zumindest wenn sie etwas trug, was ihre Figur hervortreten ließ. Aber das war selten der Fall. Sie trug lieber schlabbrige Sachen. Einen weiten Pullover, eine Jeans und Turnschuhe. Mehr brauchte sie nicht. Nur im Winter noch eine dick gepolsterte Daunenjacke, die sie aussehen ließ, wie ein Michelinmännchen. Nur hatte das Männchen dickere Beine. Lisa nicht. Bei ihr sah es aus, wie ein Ball auf Stelzen.
    
    Was mich zum Grinsen brachte, war, dass sie mich noch immer Onkel Ingo nannte. Sie wusste selber, dass ich das nicht war, aber sie behielt es bei, wobei sie öfters selber grinsen musste, wenn sie es sagte. Ein Lächeln, welches ihr etwas Schelmisches verlieh.
    
    Sie blieb die Jahre über verschwiegen, sagte wenig. Wenn sie es doch tat, dann hatte es Hand und Fuß. Wie wusste viel, hatte einen Großteil meiner Bücher gelesen, selbst die, die für sie weniger geeignet waren. Fand sie nichts Entsprechendes, las sie in einem Lexikon.
    
    Um zu sehen, ob das entsprechende Buch ihren Vorstellungen entsprach, begann sie bereits bei mir darin zu lesen. Sie setzte sich in meinen Lesesessel, schlug die dürren ...
    ... Beine übereinander, schob ihre inzwischen benötigte Brille, auf ihrer kleinen Knubbelnase zurecht, und war wenige Sekunden später in einer anderen Welt. Jetzt konnte sie nichts mehr stören. Nur wenn ich vorbeikam und ihr etwa Leckeres zu Essen neben sie stellte, sah sie auf, schnupperte danach und nahm einen Happen. Ich hatte mich inzwischen daran gewöhnt, dass sie oft da war und Jürgen hatte nichts dagegen. Immerhin wusste er, wo seine Tochter war und das war für ihn maßgeblich. Es kam vor, dass er bei mir anrief und nach Lisa fragte. Sie hatte sich dann nicht ordnungsgemäß bei ihren Eltern abgemeldet. Wenn er hörte, dass sie bei mir war, war alles in Ordnung. Er sagte mir nur noch, wann ich sie nach Hause schicken sollte. Gerade als sie noch jünger war, brachte ich sie selber nach Hause. Besonders im Winter, wenn es früh dunkel wurde.
    
    Weitere Jahre vergingen und Lisa schoss weiter hoch, schien nicht mehr damit aufhören zu wollen. Zum Glück wurde dieser Vorgang mit einem Mal unterbrochen. Mutter Natur war wohl zu der Meinung gekommen, dass es jetzt genug war. Lisa war nur noch fünf Zentimeter kleiner als ich. Hatte ich gedacht, dass sie jetzt andere Formen annahm, hatte ich mich getäuscht. Sie konnte Unmengen an Futter verdrücken, aber es setzte nicht an. Sie blieb die dürre Gestalt, die sie zuvor gewesen war. Ihr machte das nichts aus, auch wenn man sie beim ersten Blick mit einem Jungen verwechseln konnte. Überhaupt schien sie sich nicht für das andere Geschlecht zu ...
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