1. Geschwänzt


    Datum: 15.12.2020, Kategorien: CMNF

    Klara hatte ein mulmiges Gefühl, als sie auf dem schmalen Pfad den Hang hinunter zum See des alten Steinbruchs ging. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie noch nie allein am See war und eigentlich gerade im Matheunterricht sein sollte.
    
    Ihre Eltern mussten zu einer Beerdigung eines Großonkels in den USA. Sie hatten Klara das erste Mal für mehrere Tage allein zuhause gelassen, da sie die Probeklausur nicht versäumen sollte, die ihre Klassenkameraden zu diesem Zeitpunkt gerade schrieben. Aber da die Sonne an jenem Dienstag im Mai so herrlich schien und Klara kaum geübt hatte, war sie auf dem Weg zum See, der bald zwischen den Kiefern auftauchen würde. Zwischen den hohen Kiefern, die den blauen Himmel verdunkelten, war ihr etwas unheimlich zumute. Doch als sie daran dachte, dass ihr neuer Freund Jonas gegen drei Uhr nachkommen wollte, hellte sich ihre Stimmung schnell wieder auf. Jonas war dieses Jahr neu in ihre Klasse gekommen und zwischen den beiden hat es sofort gefunkt.
    
    Einige Male war sie in diesem Frühling mit ihren beiden Freundinnen Jessica und Simone schon am einsamen See gewesen. Einmal hatten sie sogar ein Lagerfeuer angezündet und Wodka probiert. Selbst am letzten Wochenende waren sie hier die einzigen. Unter der Woche und dazu noch am frühen Nachmittag, da war sich Klara sicher, würde sie den alten Steinbruch ganz für sich alleine haben. Schließlich lag der See weit abseits der Strassen und kaum jemand wusste von diesem kleinen Paradies.
    
    Klara mochte den ...
    ... See sehr und freute sich schon auf sein klares kühles Wasser. An der Uferböschung versperrten ihr ab und zu lange Brombeertriebe den Weg, die sie vorsichtig zur Seite schob, damit ihr knielanges rotes Sommerkleid nicht daran hängen blieb.
    
    Sie schien wirklich die einzige hier zu sein, denn der kleine See lag spiegelglatt da und es war vollkommen ruhig. Es war ein wunderschöner windstiller Frühlingstag, ideal um die ersten wirklich wärmenden Sonnenstrahlen in der Natur zu genießen. Klara war schon fast am Ziel, als sie die Frau erblickte. Sie lag im Bikini in der Sonne, genau auf dem kleinen Strand, an dem sie vor drei Wochen das Lagerfeuer gemacht hatten. Sie schien etwa dreißig zu sein und blätterte in einer Illustrierten. Klara kannte sie. Es war Frau Priest, die Schulfotografin, mit der sie im letzten Jahr gemeinsam Volleyball im Sportverein gespielt hatte. Die Schülerin wollte sich gerade leise davonschleichen, um nicht entdeckt zu werden, als sie durch ein lautes Bellen erschreckt wurde, das schnell näher kam. Bereits Sekunden später sprang ein großer schwarzer Hund an ihr hoch. Normalerweise hatte Klara keine große Angst vor Hunden, aber dieser, der nun auf den Hinterpfoten stehend fast so groß war wie sie und nicht mit dem Bellen aufhörte, lies sie regelrecht versteinern.
    
    Der Hund beruhigte sich erst, als Frau Priest beruhigend auf ihn einredete:
    
    "Ruhig Odin, ruhig, das ist doch niemand, der uns was tun will".
    
    Sie nahm dem Hund am Kettenhalsband und zog ihn zu ...
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