1. Geschieden, frei und untervögelt


    Datum: 17.12.2020, Kategorien: Schlampen

    ... mich nicht, die Augen zu öffnen. Es nahm kein Ende und als ich das summende und raspelnde Geräusch einer Haarschneidemaschine im Nacken spürte, liefen mir die Tränen aus den geschlossenen Augen. "Dein neues Leben, Stufe eins" sagte Julia fröhlich und ich zwang mich, die Augen zu öffnen und in den Spiegel zu schauen. Ich hätte schreien können. Das war ich nicht. Es war ein Wirrwarr von Haaren übriggeblieben, die strubbelig und wirr abstanden. "Und jetzt kommt dein neues Leben Stufe 2". Julia hatte wohl Spaß an der Formulierung. Nach mehr als zwei Stunden verließ ich den Friseursalon mit verweinten Augen und hatte mich zum Schluss nicht getraut, etwas länger in den Spiegel zu schauen. Als ich nach Hause ging, blieb ich am ersten Schaufenster stehen und überwand mich, mein Spiegelbild zu betrachten. Platinblond war das also, was von meinen Haaren übriggeblieben war. Ich erkannte mich selbst kaum wieder. Ich ließ auf dem Heimweg kein Schaufenster aus und begann, an meinen Haaren herum zu zupfen, als wenn ich sie wieder in die Länge ziehen wollte. "Tolles Styling" hörte ich plötzlich eine männliche Stimme. Ein junger Mann lächelte mich an. Ich drehte mich wortlos um und setzte meinen Weg fort. Mir war wirklich nicht danach, verarscht zu werden. Kaum zu Hause angekommen, stellte ich mich vor den Spiegel, mein Handy am Ohr, und rief Katja an. "Ich war beim Friseur" schluchzte ich "kannst du mal vorbeikommen?".
    
    "Boah ... das ist ja der Hammer!" Katja konnte sich gar nicht ...
    ... beruhigen. "Lass" dich mal anschauen". Katja machte aus ihrer Begeisterung keinen Hehl. "Hammergeil ... wie cool ist das denn ... bei welchem Friseur warst du?" Ich nannte ihr den Namen des Salons und dass eine Julia für das Verbrechen verantwortlich war. "Wow ... du siehst toll aus!" Das tat mir so gut zu hören und ich beruhigte mich etwas. Nachdem sich Katja verabschiedet hatte, putzte ich in meiner Wohnung herum, rannte zwischendurch alle paar Minuten zum Spiegel und betrachtete mein neues Ich. Und mir graute vor Montagmorgen im Büro.
    
    Warum logen mich alle an? "Klasse", "Toll", "Steht dir super", "Du siehst gut aus" hörte ich etliche Male und es dauerte etwas, bevor ich das alles als ehrliche Meinungen akzeptierte. Danach begann ich, mich gut zu fühlen und hatte dennoch das Gefühl, dass irgendetwas noch nicht zu meinem neuen Auftritt passte. Aber an sich war das klar. Und so durchforstete ich über Tage hinweg immer wieder meinen Kleiderschrank, zog jedes Stück noch einmal an und begutachtete mich im Spiegel. An sich kann alles weg, dachte ich. Ich nahm einen meiner Lieblingspullover in die Hand und schaute auf das Etikett. Konfektionsgröße 42. In meinen guten Zeiten stand da mal eine 38. Die vierzig wären schon schön, dachte ich und bildete mir ein, dass die 42 bereits minimal zu groß war. Und so durchstreifte ich nach den Arbeitstagen Boutiquen und Kaufhäuser und schleppte ohne Ende Tüten nach Hause. Und auf allen Etiketten stand die 40, auch wenn alles noch etwas eng saß. ...
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