Walhalla
Datum: 10.03.2022,
Kategorien:
Romantisch
"Darf ich mal ziehen?"
Die blasse junge Frau, die mir als Judith vorgestellt worden war, drehte sich mit einem genervten Gesichtsausdruck um. Sie musterte mich einen Moment, und gab mir dann die kleine Tüte, die sie da am Gange hatte. Wir waren allein auf dem Balkon.
"Danke schön. Judith, nicht wahr?"
"Hat dich Hannah auf mich angesetzt?", kam ihre Antwort, während sie starr geradeaus ins Nirgendwo der umliegenden Mietskasernen blickte.
"Sie hat mich auf dich aufmerksam gemacht, ja. Angesetzt würde ich das nicht nennen. Du weißt ja, wie sie ist."
Hannah war die wilde Mitfünfzigerin, deren Geburtstag wir gerade hier feierten. Seit mehr als zwei Jahrzehnten eine wirklich gute Freundin von mir. Judith war ihr Patenkind, wenn ich das richtig verstanden hatte. Ich gab ihr die Tüte zurück.
"Ganz schön kräftig. Bekommst du es auf Rezept?"
"Also hat sie dir erzählt, was mit mir ist. Ja, ich kriege es auf Rezept. Und ich habe keine Lust, mich über meine Krankheit zu unterhalten."
"Das hatte ich nicht vor. Ich war nur neugierig. Tut mir leid. Hannah ist eine verrückte Nudel, nicht wahr?"
"Das kann man so sagen", gab sie gleichzeitig mit der Tüte zurück. Der Hauch eines Lächelns umspielte erstmalig ihre Lippen. Sie sah mich lange an.
"Ich bin Björn, nebenbei. Ich kenne Hannah nun schon fast fünfundzwanzig Jahre. Sie ist einer der wenigen Menschen, von dem ich wirklich sagen kann, sie hat sich überhaupt nicht verändert, in all der Zeit. Immer noch so ...
... durchgeknallt und einzigartig, wie am ersten Tag, als ich sie kennenlernte."
"Bist du ein ehemaliger Lover?", wollte Judith wissen. Offenbar kannte sie Hannah ebenfalls sehr gut. Kunststück, die hielt mit nichts hinter dem Berg.
"Wir sind Freunde", setzte ich an, konnte mir dann aber weder das Grinsen, noch die folgende Anschlusserklärung verkneifen. "Das heißt bei ihr selbstverständlich ja, wir waren öfter miteinander im Bett. Sind es ab und zu immer noch."
Würden es später wieder sein, wenn ich ihr ihren "Geburtstagswunsch" erfüllte.
"Sag nicht, sie hat dir gesteckt, dass mich in dieser Art um mich kümmern sollst. Daraus wird nichts, Alter. Ich brauche weder Mitleid, noch einen Mitleids-Fick. Und jetzt verpiss dich."
Mein Lachen brachte sie aus dem Konzept.
"Sorry. Nein, ich empfinde weder Mitleid für dich, noch würde ich aus einem solchen Grund mit dir ins Bett steigen. Aber wenn du lieber alleine sein möchtest, verpiss ich mich selbstverständlich."
Nun hatte ich sie völlig verwirrt. Und neugierig gemacht.
"Was willst du dann von mir?"
"Gar nichts. Ich bin ähnlich durchgeknallt wie Hannah. Nicht-Wollen ist sowas wie mein Lebensmotto. Leben und Handeln ohne Worumwillen, wie Meister Eckhart das so schön nannte."
"Meister Eckhart?"
"Ein christlicher Mystiker."
"Ach du Scheiße, du bist ein Pfaffe? Jetzt wundert mich gar nichts mehr." "Hehe, nee, ich habe weder mit Kirche noch mit Glauben irgendwas am Hut. Ich habe mich lange Zeit mit diesen Dingen ...