1. Görtlers Christkind


    Datum: 20.11.2024, Kategorien: Voyeurismus / Exhibitionismus

    Mit 73 Jahren erwartete Görtler nicht mehr viel vom Leben. An einem nasskalten, unfreundlichen Tag Anfang November begann er zu merken, dass das ein Irrtum war.
    
    Er war er um sieben aufgestanden, hatte gefrühstückt, die Zeitung gelesen und sich für den Tag fertig gemacht wie fast jeden Morgen. Eile hatte er keine, doch seit dem Tod seiner Frau füllten sich seine Tage so sehr mit häuslichen Pflichten, dass er manchmal glaubte, mehr zu arbeiten als vor der Pensionierung. Nach außen dachte er wie viele Männer seiner Generation. Hausarbeit war keine richtige Arbeit und überdies Frauensache. Insgeheim aber fragte er sich, wie diese modernen, berufstätigen Frauen das alles bewältigten.
    
    Dann überkam ihn oft die Wehmut. Denn seine Tochter war so eine moderne, berufstätige Frau. Gerne hätte er an ihrem Leben Anteil genommen. Doch sie lebte in Buenos Aires, und nachdem er der Verbindung mit einem windigen Argentinier deutlichen Widerstand entgegengesetzt hatte, war es zum Bruch zwischen ihnen gekommen. Nach der dramatischen Trennung von dem Windbeutel hatten die große Distanz und der beiderseitige Görtlersche Dickschädel verhindert, dass der Bruch gekittet wurde. Irgendwann war es dann zu spät gewesen. Auch seine Enkeltochter war ja inzwischen fast erwachsen! Vielleicht wurde er bald Urgroßvater und würde es nicht mal erfahren.
    
    Heute stand also Einkaufen auf seinem Tagesplan, und er wollte es hinter sich bringen, bevor es in den Geschäften zu voll wurde. Ohne große ...
    ... Begeisterung und in der feuchten Kälte fröstelnd stapfte er durch die Siedlung hinunter zur Einkaufspassage, kaufte Fernsehzeitschrift und Brot, und füllte im Supermarkt seinen Einkaufswagen. Schließlich packte er die Einkäufe in seinen Rolli und machte sich auf den beschwerlichen Rückweg.
    
    Seine Wohnung hatte eine herrliche Aussicht, doch die hätte er gerne getauscht, wenn er nur nicht mehr diesen Hang hinauf müsste! An der Aussicht hatte er sich längst satt gesehen, und die Gegend war auch nicht mehr die beste. Immer mehr Ausländer zogen in die Siedlung, und unten an der Passage sah man neuerdings sogar Bettler. Da hockte tatsächlich schon wieder so eine Figur vor dem Eingang!
    
    Ohne besondere Absicht schaute Görtler hinüber zu der dick vermummten Gestalt. Eigentlich ganz sauber, war sein erster Gedanke. Echte Bettler, so seine feste Überzeugung, trugen Lumpen, mindestens aber verschmutzte, übel riechende Kleidung. Das Wesen da hätte er nicht als Bettler eingestuft, wäre nicht die offene Plastikdose mit dem Kleingeld und einem eng beschriebenen Schild gewesen, die vor ihm auf dem Pflaster stand. Es trug ganz gewöhnliche Alltagskleidung von der Art, wie man sie heute ohne Unterschied von Herkunft oder Geldbeutel bei jungen Menschen sah.
    
    Görtler blieb stehen. Er wusste nicht weshalb. Er wendete sich der Gestalt zu - und riss erstaunt die Augen auf. Unter der dunklen Wollmütze lugte das leicht gerötete, frische, saubere Gesicht einer jungen Frau hervor! Unwillkürlich trat er näher, ...
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