1. Das Ministerium für Bürgerglück


    Datum: 13.03.2020, Kategorien: CMNF

    ... aufgeflogen war. „Bürgermuße – frische Kraft für unsere Gemeinschaft“, wie ein Fremdkörper hing das Propagandatransparent in der menschenleeren Hotelhalle, deren Einrichtung noch den Geist der Alten Zeit ausstrahlte.
    
    Die Frau, die ein Freizeitkostüm mit großen bunten Karos trug, ignorierte die Botschaft beflissentlich, als sie ihrem Koffer folgte, der sie automatisch voranrollend zu ihrem Zimmer führte. Die Daten des Wegverlaufs waren an der Rezeption über ein Funknetzwerk an die Elektronik ihres selbstfahrenden Gepäcks übermittelt worden, als sie ihre Identifikationskarte zurückbekam. Die Zimmernummer hatte sie sich nicht gemerkt.
    
    Im Fahrstuhl herrschte Stille. Die üblichen lebenspositiven Hinweise der allgegenwärtigen staatlichen Bürgerfürsorge, die sonst in den Fahrstühlen aller öffentlichen Gebäude wiedergegeben wurden, gab es hier nicht. Dieses Hotel schien aus der Zeit gefallen zu sein. So musste es früher überall gewesen sein. Der Weg in den Etagenflur glich ihr als eine Zeitreise in vergangene, freiere Jahre, als der Staat seine Bürger noch nicht so bevormundete, wie er es heute tat.
    
    Sie folgte ihren Koffer entlang der vielen nummerierten Zimmertüren. An den Wänden hingen Lampen, keine Bürgerbeglückungsdiplays, die unaufhörlich Videobotschaften des Ministeriums für Bürgerglück abspielten. Die Frau spürte eine innere Erleichterung, der allgegenwärtigen Bürgerfürsorge für ein Wochenende entronnen zu sein. Auch gab es hier keine öffentlichen Terminals, die ...
    ... jetzt immer öfter vom Ministerium an Orten mit hohem Publikumsverkehr installiert wurden.
    
    Diese unheimlichen Geräte erfassten mit ihrer Sensorik die Psychometrie der passierenden Bürger, maßen Blutdruck und Hautwiderstand, beurteilten Mimik und Körperhaltung und glichen die Messergebnisse mit den Daten der öffentlichen Kommunikationsnetze ab. Stellte die Automatik ein psychisches Ungleichgewicht fest, forderte die elektronische Stimme die passierende Person auf, ihr Unglück zu bekennen. Es folgte die obligatorische Terminvereinbarung zur Vorsprache beim Ministerium für Bürgerglück.
    
    Die Frau hatte es in den letzten Wochen vermieden, in die Nähe eines dieser Terminals zu kommen. Zu groß war ihre Angst, bei einer ihrer quälenden Fantasien erwischt zu werden. Anfangs verschaffte ihr der Alltagsstress noch eine Ablenkung und Erholung. Doch die Träume wurden intensiver. Als sie anfing, den Terminals bewusst auszuweichen, ließen sie die Gedanken an ihre Träume nicht mehr los. Sie nahm sie mit in ihr Büro, wo es ihr immer schwerer fiel, sich auf die Arbeit zu konzentrieren.
    
    Nun stand die Frau in ihrem Hotelzimmer und wollte sich nicht eingestehen, warum sie hergekommen war. Gedankenverloren zog sie ihre Halbstiefel aus und stellte sie in den Flur. Leicht zitternd zog sie die Zimmertür an sich, ohne sie zu schließen. So blieb sie einige Zeit unentschlossen mit dem den Türgriff in der Hand stehen. Dann ließ sie los. War sie wirklich allein?
    
    Ihre Hände verkrampften sich ...
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