1. Nacktes Gretchen (Teil 2)


    Datum: 28.07.2020, Kategorien: Kunst,

    Am Tag dieser Premiere war ich deutlich aufgeregter als dies sonst der Fall war. Als ich an diesem Tag aufwachte, musste ich sofort daran denken, dass mir heute etwas ganz besonderes bevorstand. Ich werde am Abend vor 712 Personen, soviel fasste das Theater, vollkommen nackt dastehen und meine Rolle als Gretchen spielen. Obwohl ich ja schon einige Proben unbekleidet absolviert hatte, war das für mich nach wie vor unvorstellbar. Ob ich wohl in diesem Zustand meinen Text beherrsche? Ob sich die Zuseher auf das Stück oder auf mich konzentrieren werden? Ob ich wirklich in der Lage bin, vor so vielen Leuten vollkommen nackt, ja splitterfasernackt, dazustehen? Was würden meine Eltern wohl sagen? Wie immer bei einer Premiere wollten sie auch diesmal, dass ich ihnen Karten besorge. Wie wird wohl mein Vater reagieren, wenn ich gänzlich unbekleidet auf der Bühne stehe?
    
    Ich hatte meine Eltern schon vorsorglich auf die Nacktszene vorbereitet. Mein 68jähriger Vater fiel aus allen Wolken, als ich ihm sagte, dass ich eine Nacktszene zu bestreiten hatte. Ich sagte ihm, dass es die Rolle einfach erfordert, diese Szene so zu spielen, aber dennoch vermochte er sich nicht vorzustellen, dass seine einzige Tochter in aller Öffentlichkeit unbekleidet zu sehen sein wird. Ja, ich werde mich sehr vor ihm schämen, vielleicht mehr als vor all den unbekannten Theaterbesuchern. Aber ich wusste, dass ich da durch muss. Wenn es die Rolle erfordert, dann muss ich nackt sein, ganz egal, wer im ...
    ... Zuschauerraum sitzt. Ich musste schließlich damit rechnen, dass auch andere Personen, die mich persönlich kennen, nun Gelegenheit haben würden, mich ohne alles in Augenschein zu nehmen. Gottlob war ja bis jetzt in der Presse noch nicht zu lesen, dass ich nackt auftreten werde. Bei der Premiere würden also hauptsächlich Leute im Publikum sitzen, die mich nicht näher kennen. Aber spätestens zwei Tage danach würden wohl alle wissen, dass ich hier textilfrei zu bewundern bin. Und dann würden sicher auch viele Personen, die mich persönlich kennen, in die Vorstellung kommen, um mich gänzlich entblößt zu sehen.
    
    Ich hatte echt Schiss vor dieser Premiere, mehr als bei meinem Theaterdebüt. Mir war an diesem Tag jeglicher Appetit vergangen, und so musste ich mich fast zwingen, etwas hinunterzuschlingen. Es war bei Gott einer der schlimmsten Tage meines Lebens, nein, es war absolut der Horrortag. Als ich schließlich am Abend ins Theater ging, war ich nervlich total angespannt. Die Vorstellung begann um 19 Uhr. Mein Auftritt war jedoch nicht zu Beginn des ersten Aktes sondern eher gegen Ende. Ich hatte also genügend Zeit, mich zu schminken und mein Kostüm, das ich dann ohnedies sofort wieder abzulegen hatte, anzuziehen. Da saß ich nun im Bewusstsein, dass ich bald auf die Bühne muss und mich dort ausziehen werde. Nicht bloß mein Kleid, sonder alles, was ich am Körper trug. Meine Anspannung stieg von Sekunde zu Sekunde und zehn Minuten vor meinem Auftritt verließ ich meinen Garderoberaum. Ich stand ...
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