Ein jegliches hat seine Zeit
Datum: 02.09.2020,
Kategorien:
Erstes Mal
... sowie festem Schuhwerk verließ er sein Haus und machte sich auf den Weg zu seiner üblichen kleinen Spaziergangsrunde. Die-se führte ihn am Friedhof entlang, wo seine Frau und Tochter begraben lagen, an der Endstation der Straßenbahn vorbei und dann ein Stück die Hauptstraße entlang, um dann wieder in die kleinen Sei-tenstraße abzubiegen, wo sich sein Haus befand.
Er sah sie schon von weitem. Zunächst nahm er nur eine zusammengekauerte Gestalt, die auf der schmalen Bank des Unterstandes an der Endstation der Straßenbahn saß, wahr. Beim Näherkommen erkannte er, dass es sich um eine junge Frau handelte. Warum saß sie da? Ihr musste doch klar sein, dass um diese Uhrzeit keine Bahn mehr kommen würde. Angesichts der Höhe der Schneedecke würde die erste Bahn wahrscheinlich erst am späten Vormittag, wenn die Räumfahrzeuge ihre Arbeit getan hatten, kommen. Letztendlich konnte es ihm aber egal sein, warum sie da in der Kälte hockte. Vielleicht wartete sie ja auf jemanden, der sie abholen wollte.
Er musterte sie kurz, als er an ihr vorbei ging. Sie war auf jeden Fall keine von den verwahrlosten Jugendlichen, die bettelnd auf dem Bahnhofsvorplatz herum lungerten. Nach allem, was er von mir gesehen hatte, machte sie einen ordentlichen und gepflegten Eindruck. Nur ihre Kleidung entsprach ganz und gar nicht den Anforderungen der kalten Witterung, denn sie trug nur eine dünne Baumwoll-jacke und eine leichte Stoffhose. Sie war offenbar so apathisch, dass sie keine Notiz von ihm ...
... nahm, als er an ihr vorbei ging.
Kampmeyer hatte sich schon ein paar Meter von ihr entfernt, als er sich plötzlich umdrehte und zu ihr zurückging.
"Entschuldigung, Sie können hier nicht sitzen bleiben. Die erste Bahn wird, wenn überhaupt, erst in ein paar Stunden kommen. Bis dahin werden sie erfroren sein. Sie müssen ins Warme."
Verschreckt über die plötzliche Ansprache schaute sie zu ihm hinauf. Ihr Gesicht war kreideweiß vor Kälte. Sie musste vor kurzem heftig geweint haben, denn ihre Augen waren gerötet.
"Ich weiß", antwortete sie mit zitternder Stimme, "aber ich habe keinen, zu dem ich gehen kann."
"Keinen Freund, keine Freundin, Eltern, Verwandte", fragte Kampmeyer
"Mein Freund hat mich vorhin rausgeschmissen. Er fickt lieber mit Julia, hat er mir gesagt", brach es aus ihr heraus. "Ich bin neu hier und kenne keinen", fügte sie mit kläglicher Stimme hinzu.
Kampmeyer schwieg einen Moment und dann sagte er: "Sie können hier nicht die Nacht verbringen. Die Bahn und ein Taxi werden erst am Vormittag den Weg hier hinauf schaffen. Ich wohne hier in der Nähe, wenn sie wollen, können sie die nächsten Stunden bei mir verbringen und dann, wenn sich die Lage halbwegs normalisiert hat, hinunter in die Stadt fahren."
Sie schaute ihn ungläubig an. "Sie meinen, ich könnte bei ihnen bis zum Morgen warten", stammelte sie fassungslos über dieses unverhoffte Angebot.
"Ja, wenn ich es ihnen doch gesagt habe", entgegnete Kampmeyer ungehalten. Plötzlich war ihm klar ...