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Schauspieltraining
Datum: 11.09.2020, Kategorien: Kunst,
Mary saß allein bei einer Tasse Kaffee an ihrem Küchentisch, hatte die Beine hoch gelegt und las die Zeitung. Sie konnte sich, ohne auf irgend jemanden Rücksicht nehmen zu müssen nach einem harten Tag im Institut entspannen. Ihr Mann Rick war auf einer Dienstreise und ihre Kinder waren auf mehrere Universitätsstädte in benachbarten Bundesländern verteilt. Das zweite Lebewesen im Raum war die Katze, aber die lag auf einem Stuhl und schlief. Sie genoss diese halbe Stunde am Nachmittag und konnte alles ausblenden, was im Haus zu tun war beziehungsweise was sonst noch an Pflichten auf sie wartete. Der Informationsgehalt der Zeitung war eher bescheiden. aber etwas Unterhaltung war ja auch nicht zu verachten. Beim langsamen Durchblättern der Zeitung fiel ihr eine Anzeige des Stadttheaters auf. Darin wurde bekannt gegeben, dass das Stadttheater den Aufbau eines Laienensembles plane, das unter fachkundiger Anleitung eigene Aufführungen einstudieren und auf der "Kleinen Bühne" zur Darstellung bringen wird. Des Weiteren könnten einzelne Laien auch bei den großen Inszenierungen eingesetzt werden. Das Projekt werde von den Dramaturgen Thoralf Menthert und Sebastian Trossig geleitet. Interessenten -gerne auch älter als 30 Jahre - möchten sich bitte unter Telefonnummer soundso melden und Ort und Termin einer ersten Zusammenkunft erfahren. Mary konnte sich nicht vorstellen, dass es einen Mangel an Schauspielern geben könnte, eher doch wohl an Engagements! Sicher war das wieder nur ...
... ein Trick, um das notorisch klamme Stadttheater finanziell zu entlasten. Statt die Profis zu bezahlen, nimmt man Amateure! Das ist doch skandalös! Gibt es denn nicht so etwas wie eine Schauspielergewerkschaft, die dagegen einschreitet? Eine Anzeige:"Schauspieler gesucht!" müsste dem Theater doch Bewerbungen ins Haus spülen, dass man jede Aufführung drei- und vierfach besetzen kann! Andererseits... Vielleicht hatte man sich ja doch auf die hehren Ziele des Theaters als Institution der Verbesserung der Welt besonnen? Oder der Menschheit? Oder doch wenigstens des Kulturangebots in der Stadt? Nebenberuflich zu schauspielern könnte doch für viele Leute eine interessantes Hobby sein. Mary hatte früher in der Schule und dann beim Studium begeistert an kleinen Aufführungen teilgenommen und verband eine Reihe netter Erinnerungen damit. Leider war das mit Beruf und Familie dann nicht mehr vereinbar. Nun könnte sie sich schon einmal in der Woche für eine Probe Zeit nehmen. Fernsehen und Lesen muss ja nicht das ganze Leben ausfüllen. Aber eine so alte Tante wie sie will ja niemand auf einer Bühne sehen. Ab Mitte vierzig kann man beim besten Willen auch mit regelmäßigem Training und Schönheitspflege mit den jungen Dingern nicht mehr mithalten... Halt! Stand da nicht "gerne auch älter als 30"? Wer kann schon ein Stück mit lauter Girlies inszenieren? Das geht bei einigen Endlos-soaps im Fernsehen, aber doch nicht bei ernsthafter Kunst! Mary stand auf und ging an ihren Schreibtisch. ...