Schauspieltraining
Datum: 11.09.2020,
Kategorien:
Kunst,
... dass sein Kopf völlig verborgen war. "Schätzt doch mal, wie alt Sebastian ist." Es war ganz klar, dass Sebastian einen alten Mann spielte. Er lief etwas breitbeinig, steif in den Knien und im Rücken. Also musste man von dem Eindruck, den er machte, ein gutes Stück abziehen. Mary überlegte, wie Sebastian aussieht. Sie hatte ihn ja vorhin neben Thoralf gesehen, aber der hatte sofort die Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
Den Anderen ging es genau so und man einigte sich schließlich auf einen Mittelwert, vierzig Jahre. Das wäre etwas älter als Thoralf und jünger konnte ein Mensch, der so lief, offensichtlich nicht sein. Dann nahm Sebastian den Hut ab: Er war mit Abstand der jüngste unter ihnen, vielleicht Mitte zwanzig.
"Nun kommt die Frage zum Sehen: Wie hat sich Sebastian so viel älter machen können? Macht alle mal den Gang des alten Mannes nach! Ja, gleich hier und jetzt!"
Zögernd setzte sich die Gruppe im Kreis herum in Bewegung, jeder schaute nach den anderen, bei keinem war das Ergebnis der Bemühungen auch nur annähernd so perfekt wie bei Sebastian. Er und Thoralf gingen zu jedem einzelnen und gaben Tipps zur Verbesserung. Nach einigen Minuten stoppte Thoralf die Bewegung und ordnete die Gruppe wieder im Halbkreis um sich: "Also das wird einen großen Teil unseres Trainings ausmachen: Sehen und nachahmen und dabei gesehen werden. Habt ihr gemerkt, wie einige gezögert und sich vor den anderen geniert haben? Das ist ganz normal, aber für einen Schauspieler ...
... unmöglich."
Thoralf wendete sich dem neben ihm stehenden Sebastian zu und griff ihm plötzlich mit beiden Händen an den Hals und begann ihn zu würgen. "Ich sagte vorhin, wir müssen uns in die Rolle hinein versetzen, dürfen uns aber nicht darin verlieren." Sebastian versuchte verzweifelt, Thoralfs Hände von seinem Hals zu lösen. Beider Fingerknöchel waren weiß vor Anstrengung. Sebastian lief schon rot an und fing mit geöffnetem Mund an zu röcheln. Ungerührt fuhr Thoralf fort:"Wer so eine Szene spielt, darf sich nicht dazu hinreißen lassen, Ernst zu machen. Das gilt für eine Strangulierung, aber noch mehr für eine Liebesszene."
Unterdessen fing Sebastian an, spasstisch zu zucken, er empfand das ganz klar nicht mehr als Spaß, sondern kämpfte um sein Leben. Mary war drauf und dran einzuschreiten, als Thoralf los lies. " Es darf niemandem ein Schaden entstehen. Auch ich würde nicht ungeschoren davon kommen, wenn Sebastian heute Abend mit Würgemalen zu seiner Freundin nach Hause kommt." Thoralf hatte Sebastian kaum berührt! Beide grinsten vergnügt, dass ihnen wieder eine Überraschung gelungen war und sonnten sich im anerkennenden Gemurmel der Umstehenden.
"Nun seid ihr wieder dran: Jeder stellt sich ein Tier in seinen typischen Bewegungen vor und ahmt es dann nach. Lasst euch Zeit und überlegt, wie ihr das Tier darstellen wollt." - Mary wusste, wie wichtig es war, auch Tiere in ihrer Eigenart darzustellen. Vor vielen Jahren hatte sie in einem Aitmatov-Stück einen Schauspielstudenten ...