1. Tsunami


    Datum: 02.07.2020, Kategorien: Schamsituation

    11. 03. 2011, Ein Tag, wie jeder andere in Nippon.
    
    Routinearbeit im Festland-Pfeiler der Kanmonkyo-Brücke. Es ist ein schöner, sonniger Morgen. Aber ich muss hinab steigen bis tief in den Brückenpfeilerfuß.
    
    Ein Abwasser-Auslassrohr der Spülpumpe soll undicht sein. Ich durchquere die oben liegenden, heute nicht besetzten Räume der Überwachungsstation. Es ist Wochenende. Überall japanische Perfektion, wie ich sie liebe. Anzeigetafeln, Computer, Messgeräte, aber zu hoch für meine bescheidene Intelligenz. Ich bin schließlich nur der Klempner von „Matashi&Co, Sanitär-Schnellreparaturen, kostengünstig“.
    
    Ich fahre mit dem Lift zwei Stockwerke nach unten, finde die Pumpe und erkenne den Fehler:
    
    Eine der Gummimanschetten hat einen Riss, aus welchem das gesammelte abgepumpte Sicker-, Schwitz-, und Abwasser mit einem feinen Strahl austritt.
    
    Also: wieder nach oben mit dem Lift, das Ventil zur Pumpe schließen.
    
    Ein Blick aus dem Fenster der Station macht mich stutzig: Das ganze Wasser in der Bucht ist verschwunden.
    
    Ist die Ebbe heute so stark? Aber es kümmert mich nicht weiter, nicht mein Job.
    
    Ganz im Gegenteil, es wird meinen Job erleichtern. Kein neues Sickerwasser.
    
    Im ersten Untergeschoss höre ich es kichern. Die Putzkolonne, wie es scheint. Ein Haufen alberner junger Frauen und Mädchen. Auch sie erledigen ihren Wochenend-Job. Japanische Sauberkeit, bis es blitzt. OK, was soll’s?
    
    Als ich unten aus dem Lift trete, erschüttert ein mächtiger Schlag den ...
    ... Brückenpfeiler. Ich kann es mir nicht erklären, aber ich sehe, dass sich die Lifttür ruckartig hinter mir schließt.
    
    Was soll das? An der gegenüberliegenden Wand spielen die Zeiger einiger Messinstrumente verrückt. Ich stutze:
    
    Der Druckmesser am Rohr zeigt über 480 Hektopascal, also 4,8 m Wassersäule an. Oben steht also das Wasser also fast 5 Meter hoch!
    
    Als gelernter Japaner kommt mir aber auch gleich die mögliche Ursache in den Sinn:
    
    Eine riesige Welle muss über den Pfeiler geschwappt sein. Der Pfeiler hat standgehalten, aber
    
    Jetzt ist das obere Stockwerk voller Wasser.
    
    Eine Hafenwelle, ein Tsunami!
    
    Und ich habe das Ablaufventil zugedreht! Der Lift streikt. Was jetzt?
    
    Direkt über mir höre ich es vielstimmig und aufgeregt schreien und quieken.
    
    Offensichtlich die Putzkolonne. Was ist passiert über mir?
    
    Ich krame schnell mit fahrigen Händen den Lageplan aus meiner Werkzeugtasche, den ich vom Chef bekommen habe.
    
    Der Pumpenraum liegt knapp unter der Normal-Flut-Wasserlinie. Darüber, ein Stockwerk höher, liegen die Dusch- und Umkleideräume. Dann erst kommt die Mess- und Beobachtungsstation, in welcher das Wasser eingedrungen sein muss.
    
    Hatte ich etwa die Tür offen gelassen? Könnte sein, aber jetzt wird sie vom Wasserdruck sicher zugedrückt.
    
    Ich muss raus, bevor die Decke durchbricht und alles hier überflutet.
    
    Ich sehe mich um. Da! An der Wand, in einer Ecke ist eine Steigleiter, eine Feuerleiter.
    
    Auf jeden fall ein Fluchtweg.
    
    Ich klettere ...
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