1. Ein jegliches hat seine Zeit


    Datum: 02.09.2020, Kategorien: Erstes Mal

    ... Schneehaufen daneben konnte er noch Reste einer Blutlache erkennen.
    
    Es kostete ihn eine übermenschliche Kraft, den Mann, der neben ihm stand, zu fragen, was passiert sei. Der Fahrer des Lkw, der Mann deutete auf einen Sattelschlepper, der in einiger Entfernung quer auf der Straße stand, hat die Kontrolle über seinen Wagen verloren. Die junge Frau, die an der Ampel stand und auf Grün wartete, konnte nicht mehr ausweichen. Er hat sie voll erwischt. Sie muss sofort tot gewesen sein. "Grauenvoll, einfach nur schrecklich. Eine junge Frau, langes blondes Haar, wunder-schön anzusehen. Und jetzt, von einer Sekunde auf die andere, tot", erzählte er Kampmeyer.
    
    "Wie alt war sie? Konnten sie sehen, was für eine Jacke sie trug?", stieß Kampmeyer hastig hervor.
    
    "Ich denke, sie war so Anfang bis Mitte zwanzig und soweit ich erkennen konnte trug sie einen hell-blauen Anorak. Aber warum fragen sie. Kannten sie die Frau?"
    
    Kampmeyer schüttelte den Kopf und wandte sich wortlos ab. Er nahm seine Umgebung nicht mehr wahr als er nach Hause ging. Der Traum vom kleinen Glück, den er soeben geträumt hatte, war zer-stört. Ihm fiel ein, dass er nicht einmal ihren Namen wusste. Er konnte das Glück, das er verloren hat-te, noch nicht einmal benennen.
    
    Mechanisch, wie ein Roboter erledigte er die folgenden Aufgaben: Er räumte die Küche auf, brachte das Schlafsofa wieder in Ordnung und machte im Schlafzimmer das Bett. Danach ging er wieder hin-unter ins Wohnzimmer und holte aus dem ...
    ... Sideboard, das rechts neben der Tür zur Küche stand, das Paket mit den verschiedenen Mitteln für seinen letzten Trank, das er sich von einer ausländischen Frei-tod-Initiative besorgt hatte, hervor. Peinlich genau wog er die einzelnen Zutaten ab, denn die erfolgrei-che Wirkung des Giftcocktails hing, so stand es in der Anleitung, vom genauen Mischungsverhältnis der verschiedenen Wirkstoffe ab. Schließlich stand das Glas mit der milchig-weißen Flüssigkeit auf dem Küchentisch.
    
    Die letzten Schritte tat er in einer ruhigen Gelassenheit. Er legte das Blatt, auf dem er die Adressen und Telefonnummern von seinem Bruder und seinem Notar notiert hatte, gut sichtbar auf den Küchen-tisch. Dann ging er nach unten in den Keller und schaltete die Heizung ab. Anschließend öffnete er unten alle Fenster und machte auch die Haustür auf. Zum einen, weil er davon ausging, dass durch diesen ungewöhnlichen Anblick seine Nachbarn aufmerksam wurden, dass bei ihm etwas Ungewöhn-liches vorgefallen sein musste, zum anderen hoffte er, dass die Kälte den Verwesungsprozess seines Leichnams verlangsamen würde.
    
    Am Ende saß Kampmeyer am Küchentisch und hielt seinen Schierlingsbecher in der Hand. Zufällig schaute er auf den kleinen Abreißkalender, den er jedes Jahr von seiner Kirchengemeinde erhielt. Er hatte den Bibelsprüchen und Psalmen, die unter dem jeweiligen Tagesdatum standen, nie groß Beach-tung geschenkt. Aber das Bibelzitat, das für den heutigen Tag aufgeführt war, berührte ihn zutiefst. Es war eine ...
«12...891011»