1. Argonauta Kapitel 12-22


    Datum: 15.10.2020, Kategorien: Romane und Kurzromane,

    ... entlang. Es roch nach abgestandener Luft, leicht modrig und nach vergilbtem Papier. Vor einer großen Eichenholztür blieb sie stehen, hielt den elektrischen Türöffner gegen das Lesegerät und mit einem leisen Piepsen wurde die Tür entriegelt. „Bitte sehr, Constable. Aber bitte nur einen kurzen Augenblick."
    
    Annie trat in Singers Büro. Es war genauso wie sie es sich vorgestellt hatte. Annie zog sich routiniert ein Paar frischer Nitrilhandschuhe über.
    
    Draußen vor dem Fenster stand ein Pallisanderbaum, der kräftig blühte und durch dessen knorrige Äste schwaches Morgenlicht ins Büro fiel. In der Mitte befand sich ein schwerer Schreibtisch, auf dem neben einem modernen Flachbildschirm etliche Akten, Ablagefächer und eine Mappe lagen. Die Wände waren mit zahlreichen Gemälden behangen. Einige kannte Annie sogar, weshalb sie davon ausging, dass es lediglich Reproduktionen waren. Alles in allem ein völlig normales Büro.
    
    „Fällt Ihnen etwas auf?", fragte Annie, „Ist irgendetwas anders als sonst?"
    
    „Nein", antwortete Singers Sekretärin. „Obwohl, doch ... das da", sagte sie und zeigte auf eine Jacke, die über der Rückenlehne hing, „das ist Prof. Singers Jacke. Die lässt er für gewöhnlich nie hier."
    
    „Das heißt, wenn die Jacke da ist, ist der Professor normalerweise auch anwesend?"
    
    „Genau."
    
    „Aber Sie haben ihn heute definitiv noch nicht gesehen?"
    
    „Nein. Wie gesagt, Prof. Singer ist immer vor mir da. Ich muss mich morgens nicht einmal um den Kaffee kümmern, weil er ...
    ... das selbst macht."
    
    „Und heute war der Kaffee noch nicht fertig?"
    
    „Nein, heute habe ich selbst welchen aufgesetzt."
    
    Annies Blick wanderte durch den Raum. Mit Ausnahme der Jacke schien alles an seinem Platz zu sein. Dann fiel ihr etwas auf.
    
    Mitten auf dem Tisch stand eine kleine Bronzestatuette. Ein Frauenakt, der ein unbekleidetes junges Mädchen zeigte, das in der Hocke saß und in seinen Händen einen Frosch hielt. „Diese Bronzestatue da", sagte Annie, „steht die immer da?"
    
    „Ja", antwortete die Sekretärin, „Die steht immer auf Prof. Singers Schreibtisch. Er benutzt sie als Briefbeschwerer."
    
    Nachdenklich kratzte sich Annie die Stirn. „Aber finden Sie nicht, dass der Platz irgendwie komisch gewählt ist? Ich meine, so mitten auf dem Schreibtisch? Da bleibt doch für's Arbeiten kaum Platz."
    
    „Stimmt, Sie haben recht, Miss Blackthorne. Normalerweise steht die Statuette weiter am Rand, genau dort, neben dem Schreibtischset."
    
    Sie deutete auf eine bronzene Ablage für alte Federhalter, die beiderseits von zwei Gefäßen begrenzt war. Annie wusste, dass sie früher Tinte und Löschsand enthalten hatten. Aber gewiss erledigte der Professor seine Arbeit heute nicht mehr damit und hatte die Sachen wohl nur zu Dekorationszwecken dort stehen.
    
    Annie ging zum Schreibtisch und streckte den Arm aus.
    
    „Darf ich?", fragte sie höflich.
    
    „Ja, natürlich."
    
    Annie nahm die Statuette in die Hand. Sie musterte sie aufmerksam, drehte und wendete sie. Aber sie konnte nichts ...
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