1. Argonauta Kapitel 12-22


    Datum: 15.10.2020, Kategorien: Romane und Kurzromane,

    ... nicht.
    
    Melina machte das Boot an einem Baum fest, in dessen Krone sich eine ganze Kolonie von Seidenreihern häuslich eingerichtet hatte. Seine Äste hingen unter der Last der vielen Nester durch und überall in einem Radius, der exakt dem Durchmesser seiner Krone entsprach, war der Boden mit einer dichten Schicht Vogelschmelz überzogen, die einen unangenehmen ammoniakalischen Geruch verströmte. Ein lautes, aufgeregtes Kreischen ging durch die Reiherkolonie, als könnten es ihre Bewohner nicht fassen, dass diese drei seltsam aussehenden Neuankömmlinge sich erdreisteten ihre Mittagsruhe zu stören und sich unerlaubt Zutritt zu ihrer Wohnsiedlung zu verschaffen.
    
    Florian stieg als erster aus dem wackeligen Boot aus. Mückenschwärme brummten laut um ihn herum. Die Sonne brannte unbarmherzig. Die Luft war schwül-warm, geradezu drückend. Er ging zu Melina und reichte ihr seinen Arm, um der jungen Vogelkundlerin aus dem Boot zu helfen.
    
    „Danke", sagte Melina verzückt, „ein echter Gentleman."
    
    Julia erhob sich. Obwohl Melina das Boot gut am Baum vertäut hatte, wackelte es bedrohlich. Als Florian auch ihr aus dem Kahn helfen wollte, fauchte sie ihn jedoch geringschätzig an: „Ich kann das alleine!"
    
    „Bitte, wie du willst", entgegnete Florian und blies die Luft schnaubend aus seinen Backen.
    
    Gemeinsam hievten sie schließlich die schwere Ausrüstung aus dem Ruderboot und schleppten sie an den Strand.
    
    „Schaut mal da drüben", sagte Melina und zeigte mit dem Finger auf einen ...
    ... Punkt, keine zehn Meter entfernt.
    
    Im seichten Wasser stand ein Vogel, der vielleicht so groß wie eine kleine Hausgans war. Sein Gefieder war bis auf einen gelblichen Fleck auf seiner Brust leuchtend weiß, seine langen Beine pechschwarz. Auf seinem Hinterkopf trug er einen Schopf verlängerter Federn, die wie Haare herab hingen. Sein Gesicht war nackt und ebenso wie seine Beine tiefschwarz, abgesehen von zwei leuchtend gelben Flecken über seinen Augen und einem roten Stirnfleck. Er hatte seinen langen Hals nach unten gestreckt und durchsuchte mit seinem merkwürdig geformten Schnabel das Watt nach etwas Fressbarem. Er war an der Basis sehr schmal und verbreiterte sich an der Spitze. Man musste nicht viel Fantasie haben, um darin die Form eines Löffels zu erkennen.
    
    „Ist es ein Königslöffler?", fragte Julia neugierig.
    
    „Stimmt genau", antwortete Melina, die ihren Feldführer und einen Stift zückte. Sie schlug die entsprechende Seite darin auf und machte ein Kreuzchen hinein. Das hatte Melina schon den ganzen Tag über gemacht. Jedes Mal, wenn sie eine neue Vogelart zu sehen bekommen hatten, hatte Melina neben dem entsprechenden Eintrag in ihrem Buch ein Kreuz gemacht.
    
    „Und wieder eine weniger", kommentierte Melina erfreut. Beinahe erschien es Julia so, als wäre ihre Freundin von einem Jagdtrieb gepackt, genau wie Großwildjäger vergangener Zeiten. Nur mit dem Unterschied, dass Melina nicht mit dem Gewehr jagte, sondern mit einem Stift und dass ihre Beute kein Vogelbalg war, ...
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