1. Argonauta Kapitel 12-22


    Datum: 15.10.2020, Kategorien: Romane und Kurzromane,

    ... dabei handelte. Blind wie ein Maulwurf tastete er sich voran.
    
    Nur langsam kam er vorwärts. Seine Schritte hallten durch den Gang. Mehrmals blieb er ängstlich stehen, ließ sich vom Echo täuschen und befürchtete, Renner wäre aus der Zelle entkommen oder Jürgens wäre aufgetaucht. Doch er war allein. Seine Fantasie spielte ihm offenbar nur einen alles andere als komischen Streich.
    
    Weiße Flecken tauchten in der Dunkelheit gespenstisch auf, formten sich zu bedrohlichen Kreaturen. Singer fürchtete sich, obwohl er wusste, dass die Bilder nur Hirngespinste waren. Produkte seiner Fantasie, die sein Verstand kreierte, weil er krampfhaft versuchte, irgendetwas in der finsteren Schwärze erkennen zu können. Weil dort nichts war, erfand das Gehirn einfach etwas, das es verarbeiten konnte.
    
    Der Boden war uneben. Das Wasser hatte zahlreiche Buckel und Rillen hineingegraben. Schon zwei Mal wäre Singer beinahe gestolpert. Nur mit Mühe hatte er seinen Sturz verhindern können, jedes Mal von einem lauten Fluchen begleitet. In der Ferne hörte er, dass Renner offenbar wieder aufgestanden war und gegen die Türe der Gefängniszelle hämmerte. Hoffentlich alarmierte er den Alten damit nicht.
    
    Plötzlich spürte Singer einen sanften Luftzug. Frische Luft! Sie musste von irgendwoher kommen! Zweifellos vom Ausgang. Eine Welle der Euphorie packte den Professor. Aber noch war es nicht geschafft. Seine Flucht war noch nicht geglückt, obwohl er die Freiheit schon auf seiner Zunge schmecken ...
    ... konnte.
    
    Und dann sah er sie. Das heißt, sehen war zu viel verlangt, es war eher ein Erahnen. Eine Tür, durch deren Spalt ein blasser, silbriger Lichtstreif schien. Die Tür war direkt vor ihm und befand sich am Ende einer Treppe. Vorsichtig, um jetzt bloß nicht zu stolpern, schlurfte er Stufe für Stufe nach oben.
    
    Er jubelte innerlich auf. Geschafft!
    
    Singer hatte das Ende der Treppe erreicht und ertastete in der Dunkelheit die Klinke. Er drückte sie nach unten und ...
    
    Nichts geschah. Die Tür war abgeschlossen.
    
    „Verdammt!", fauchte er.
    
    Dann fiel es ihm ein:Natürlich! Der Schlüssel!
    
    Er hatte immer noch Renners Schlüsselbund bei sich. Irgendeiner der Schlüssel musste der Richtige sein. Singer holte den Bund aus seiner Hosentasche und war sofort entmutigt. Der Bund war schwer und unzählige Schlüssel waren daran befestigt. Es würde eine Ewigkeit dauern, bis er jeden einzelnen Schlüssel durchprobiert hatte. Noch dazu konnte er immer noch nicht genug sehen, um systematisch Schlüssel für Schlüssel durchzugehen. Er würde es auf gut Glück versuchen und hoffen müssen, irgendwann den richtigen Schlüssel dabei zu erwischen.
    
    Was für manchen Mathematiker vielleicht ein anschauliches Beispiel für ein Urnenmodell mit „Ziehen und Zurückliegen" gewesen wäre, entpuppte sich für ihn als der blanke Horror. Denn ihm war klar, dass die Wahrscheinlichkeit von Jürgens entdeckt zu werden, von Minute zu Minute stieg. Trotzdem blieb ihm keine Wahl.
    
    Er versuchte es mit dem ersten Schlüssel, ...
«12...272829...57»