1. Die rote Box


    Datum: 24.12.2020, Kategorien: Schamsituation

    ... nämlich Zeit.
    
    So schnell ich konnte, lief ich von der Haltestelle zur Einrichtung. Bereits an der Eingangstür empfing mich der Leiter mit einer grimmigen Mine: „Guten Tag, Frau Li. Schön, dass Sie es sich doch noch einrichten konnten. Ich bin nun fast 30 Jahre in diesem Job, aber das eine am ersten Tag fast eineinhalb Stunden zu spät kommt, gab es noch nie.“
    
    „Entschuldigen Sie bitte!“, sagte ich kleinlaut, „Die eine Bahn ist ausgefallen und die …!“
    
    „Kommen Sie rein!“, unterbrach er mich im strengen Ton, „Gehen Sie erstmal zu Frau Kohlmeier in die Gruppe, wir sprechen uns später nochmal!“
    
    Mit gesenktem Haupt schlich ich an ihm vorbei und ging direkt zum Gruppenraum. „Guten Morgen, Yumi!“, begrüßte mich Kristin, so hieß Frau Kohlmeier mit Vornamen, „Wir haben mit dem Morgenkreis auf dich gewartet, magst du dich zu uns setzen?“
    
    Die freundliche Begrüßung zauberte mir das erste Lächeln des Tages ins Gesicht. Ich setzte mich dazu und durfte den Kindern, von denen ich einige ja schon gesehen hatte, kurz erzählen, wer ich bin und dass ich ab heute als neue Erzieherin in der Einrichtung arbeiten werde.
    
    Nach dem allmorgendlichen Prozedere sagte Kristin: „Heute ist Mittwoch! Jakob, holst du bitte mal die rote Box. Ich schlage vor, dass heute an ihrem ersten Tag, Yumi das heutige Überraschungsthema zieht. Was haltet Ihr davon?“
    
    Die Kinder stimmten im Chor zu und Jakob stellte die rote Box in den Kreis.
    
    Ich griff in die Box, holte eine Karte heraus und las laut ...
    ... vor: „Heute bemalen wir Liebenswertes!“
    
    Die Kinder jubelten sprangen auf und liefen unaufgefordert zu ihren Malkitteln und zogen sie an.
    
    „Ist das für dich in Ordnung, Yumi?“, fragte Kristin mit einem seltsamen Unterton, der es für möglich hielt, dass ich den Kindern das merklich beliebte Thema verweigern könnte.
    
    „Ja, natürlich, wenn die Kinder so begeistert sind!“, antwortet ich, „Du musst mir nur sagen, was ich machen soll:“
    
    „Okay! Ich hole erstmal Pinsel und Farben“, sagte sie und ergänzte im Weggehen, „du kannst dich schonmal ausziehen!“
    
    Ich glaubte mich verhört zu haben. Doch dafür hallten die Worte zu deutlich in meinem Kopf nach. War das ein Scherz von Kristin gewesen? War das ein Prank, der bei allen Neuankömmlingen zum Einstand versucht wird? Sollte ich mich verweigern? Kann ich mich weigern, nachdem ich heute schon mehr als ausreichend negativ aufgefallen war?
    
    Ich zögerte. Doch schon waren die Kinder um mich herum und Leonie sagte: „Wenn der Knopf von deiner Hose schwer auf geht, fragt einfach Kristin, die hilft mir auch manchmal!“
    
    „Nein, nein, kein Problem“, erwiderte ich irritiert. Die Kinder erwarteten tatsächlich von mir, dass ich mich nackt ausziehe.
    
    „Dann war es vielleicht doch kein Scherz?“, dachte ich und fragte die Kinder, „Wen habt ihr denn beim letzten Mal bemalt?“
    
    „Nur Kristin!“, sagte Theo. „Aber heute bis du ja auch da.“
    
    „Ja, heute bin ich …!“, antworte ich und schaute unsicher in Richtung Tür, durch die Kristin gerade ...
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